Ins Kaffeehaus!
Zanken, Puff und Müßiggang
Mögen auch Venedig und Konstantinopel, London und Oxford, Bremen und Hamburg um Jahrzehnte zuvorgekommen sein: mit keiner europäischen Metropole verbindet man die Institution des Kaffehauses wohl so sehr wie mit Wien.
Das liegt auch an den schillernden Charakteren, die hier ein- und ausgingen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an galt das Kaffeehaus als Künstler- und Schriftstellertreff schlechthin. Von Johann Strauß (d. J.) und Anton Bruckner über Leo Trotzki und Egon Erwin Kisch bis hin zu Sigmund Freud und Siegfried Lenz zog es die großen Denker, Poeten, Journalisten, Literaten und Komponisten der Epoche in seine rauchgeschwängerten Hallen, in einer Zeit, als das habsburgische Wien zum Zentrum des europäischen Geisteslebens heranwuchs.
Dabei ließ es sich hier nicht nur hervorragend an neuen Schriften oder Kompositionen feilen und mit Kollegen zanken, oder wunderbar Domino, Schach, Puff (das heutige Backgammon), Tarock oder Billard spielen, sondern auch allein - aber doch immer in Gesellschaft - dem Müßiggang frönen.
1 Mokka = 1 x um die Welt
Die Zeitungslektüre war dabei nicht wegzudenken. Stundenlang durchforstete mancher Gast, von einem einzelnen Mokka zehrend, die Blätter, die in den Häusern auslagen. Das legendäre Café Central listet für das Jahr 1913, kurz vor Ende der Donaumonarchie, ein Angebot aus 213 Tageszeitungen, Wochen- und Monatsschriften. Darunter Naheliegendes aus Wien, Österreich, dem Deutschen Reich und dem Habsburger Herrschaftsgebiet. Aber auch Veröffentlichungen aus Italien, Russland, Holland, Spanien, Norwegen, Schweden, Dänemark, England und den USA.
Dazu kamen in vielen Häusern zahlreiche enzyklopädische Werke. In seinem Roman "Zwischen neun und neun" illustriert Leo Perutz, einer der großen Kaffehausliteraten, wie diese Wissensanhäufung bisweilen ins Kuriose ausuferte.
Sein Held, der Student Stanislaus Demba, fällt im Lauf des erzählten Tages zunehmend dem Wahnsinn anheim. Mit dem irrwitzigen Vorhaben, eine "Dissertation über den Stand des menschlichen Wissens am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts" zu schreiben, betritt er kurz vor der Mittagszeit das Café Hibernia.
Vom Kellner lässt er sich nacheinander: Lehmanns Adressbuch, den Kleinen Brockhaus in 8 Bänden, das Handbuch für Ingenieure, das Jahrbuch für Heer und Flotte, den Gothaeischen Hofkalender, das Gräfliche Taschenbuch, das Taschenbuch der freiherrlichen Häuser, das Jahrbuch des Vereins ehemaliger Börsebesucher, den Niederösterreichischen Landeskalender, den Wiener Kommunalkalender, den Amtskalender der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, von beiden Letztgenannten jeweils den letzten und vorletzten Jahrgang, und das Fremdwörterlexikon auf den Tisch stapeln. Um dann, erbost über das Lärmen in dem fast ausgestorbenen Lokal, unverrichteter Dinge das Weite zu suchen.
Trostspendender Schlupfwinkel
Hinter der offensichtlichen Absurdität des Geschehens scheint hier ein zentrales Thema der Kaffeehausliteratur durch: ein durchaus liebevoller Spott gegenüber dem eigenen Milieu und den Sonderlingen, die es bevölkern, ein Spott, der immer auch dem eigenen Dasein gilt. Alfred Polgar schreibt über das Café Central in seiner Blüte, was wohl auf viele zeitgenössische Häuser zutrifft: Ein Ort sei es, in dem das Lebensunfähige unter voller Wahrung seiner Lebensunfähigkeit gedeihe, eine Weltanschauung, deren Essenz es sei, die Welt nicht anzuschauen, ein Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssten, um nicht im Gegenzug von ihr totgeschlagen zu werden.
Von Schwarz zu Weiß: die ganze Palette
Trefflich half und hilft dabei der Kaffeegenuss. Werden heute die Italiener vor allen Anderen als die Gralshüter der Kaffeekultur gesehen, so sind es doch die Wiener, die dem Kaffee den größten Variantenreichtum abgetrotzt haben. Auf den Schwarzen ohne Milch, den Mokka, folgen in einer Reihe aufsteigenden Milchgehalts der Kapuziner ("ein" Tropfen Milch), der Dunkle ("zwei" Tropfen), der Braune ("drei" Tropfen), Gold, der helle Braune, der Kaffee verkehrt (mehr Milch als Kaffee, auch als Opamelange verunglimpft) und der Obers gespritzt. Letzgenannter enthält, anders als sein Name vermuten lässt, allerdings keine Sahne, sondern weist durch den hohen Milchanteil lediglich eine sehr helle Farbe auf.
Mokka Mischmasch
Eine Wiener Melange ist ein mit Wasser "verlängerter" Mokka mit reichlich Milch, eventuell mit Schlagobers gekrönt. Liegen Kakao- oder Schokoladenstreußel auf der Oberskrone, wird die Melange zum Franziskaner. Hellt man den Kaffee nicht mit Milch, sondern mit Eidotter auf und gibt noch Honig hinzu, so spricht man von einer Kaisermelange.
Kaffee, durch Sahne geschlürft
Aus dem oben genannten Kapuziner wird ein weltlicher Konsul, ersetzt man die Milch durch Obers. Deutlich mehr Sahne landet im Obermayer, benannt nach einem Musiker der Wiener Philharmoniker. Dieser zog es vor, seinen Kaffee durch kalte Sahne hindurch zu schlürfen. Um dies zu bewerkstelligen, wird ungeschlagenes Obers über den Rücken eines Kaffelöffels in eine Schale mit gut gesüßtem Mokka gegossen. Ist man vorsichtig genug, bleibt das Obers tatsächlich über dem Kaffee. Um ein Vermischen zu verhindern, wird das Getränk in der Regel direkt an der Theke genossen.
Ein Fiaker ist eine zweispännige Lohnkutsche, aber auch ein Kaffee mit Rum, Maria Theresia nicht nur die Österreichische Erzherzogin, sondern auch ein Mokka mit Kaffee- und Orangenlikör. Für einen Mazagran wird starker, noch heißer Mokka über gestoßene Nelken und Zimtrinde gegossen, dann kaltgestellt, abgeseiht und mit Zucker, Maraschino und Cognac versetzt. Das Ganze wird dann auf Eis serviert. Angeblich hatten sich französische Soldaten, ausschließlich von dieser Mischung gestärkt, wochenlang auf den Beinen gehalten, als sie den Ort Mazagran im heutigen Algerien belagerten.
... und Süßes?!?
Neben den verschiedenen Kaffeespezialitäten war die Auswahl in den Kaffehäusern zu Beginn noch sehr begrenzt. Tee und Trinkschokolade wurden angeboten, einige Schnäpse, vielleicht noch ein Hefehörnchen, der Kipfel. Im Sommer gab es verschiedene "Erfrischungswässer", die sich am ehesten mit unseren Limonaden vergleichen lassen. Den servierenden Lokalitäten trugen sie, wohl wegen der abenteuerlichen Farben, den Beinamen "Gifthüttn" ein.
Erstaunlich früh standen allerlei Eissorten auf dem Menu: eine Speisekarte des Hauses Ducati aus dem Jahre 1786 listet "Vaniglia, Papina [Kuchen aus der Lombardei], Ribisel [rote Johannisbeeren], Himbeer, Weichsel, Erdbeer, Limonie, Chokolade und Ananas". Erst später kamen die Kuchen und Mehlspeisen hinzu, für die die Wiener Kaffeehäuser über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt sind.
Zu den bekanntesten Vertretern zählt, neben Sachertorte und Linzer Torte, der Wiener Apfelstrudel. Schon Kaiser Franz Joseph ließ sich jeden Nachmittag ein Stück davon in die Privatgemächer bringen. "Ein Tag ohne Strudel", so der sonst so förmliche Regent, sei "wie ein Himmel ohne Sterne".
Eine Abart des klassischen Wiener Apfelstrudels habe ich an unverhoffter Stelle entdeckt. Im "Silberlöffel", seit mehr als 60 Jahren die Kochbibel der italienischen Hausfrau, wird im hintersten Drittel, auf Seite 1077, eine "Wiener Apfeltorte" vorgestellt. Mit Äpfeln von der Streuobstwiese wurde daraus eine leckere Apfelkuchenvariante, die mir frevelhafterweise deutlich besser schmeckt als das Original mit seinem hauchdünnen Teig.
Rezept: Wiener Apfeltorte
Für den Teig:
320 g Mehl und etwas Mehl zum Bestäuben
80 g feiner Zucker
abgeriebene Schale von einer halben Zitrone
2 Eier
165 g weiche Butter, in Würfel geschnitten,
und etwas Butter zum Einfetten
1 Eigelb, leicht verquirlt
Salz
Für die Füllung:
100 g Sultaninen
6-8 Äpfel
4 Löffelbiscuits, zerkrümelt
100 g Walnusskerne, gehackt
65 g feiner Zucker
1 Prise gemahlener Zimt
1 EL zerlassene Butter
Das Mehl mit einer Prise Salz vermengen und auf eine Arbeitsfläche sieben. In die Mitte eine Mulde drücken. Zucker, Zitronenschale und Eier hineingeben. Mit den Fingerspitzen feinkrümelig verkneten. Portionsweise die Butter einarbeiten. An einem kühlen Ort mindestens 1 Stunde ruhen lassen.
Währenddessen die Sultaninen in einer Schüssel mit warmem Wasser bedecken und etwa 15 Minuten ziehen lassen. Dann abtropfen lassen uns ausdrücken. Die Äpfel schälen und das Kerngehäuse herausschneiden. Klein würfeln. Mit den Bröseln des Löffelbiscuits, den Sultaninen, Walnüssen, Zucker, Zimt und zerlassener Butter in einer Schüssel vermengen.
Den Backofen auf 180°C vorheizen. Eine Springform mit einem Durchmesser von 26 cm mit Butter einfetten. Zwei Drittel des Teiges auf einer leicht bemehlten Arbeitsfläche kreisrund ausrollen. Die Form damit auskleiden. Die Füllung darauf verteilen. Den restlichen Teig ebenfalls ausrollen und darauf legen. Den Rand andrücken, überstehenden Teig abschneiden. Ich habe in die Mitte des Deckels mit einem scharfen Messer ein rundes Loch geschnitten, damit der Dampf aus den Äpfeln entweichen kann und nicht an anderer Stelle den Deckel aufreisst. Den Teigdeckel mit dem Eigelb bestreichen und 45 Minuten backen. In der Form auskühlen lassen. Mit leicht gesüßtem Obers servieren.
Weiterlesen!
Wer wissen möchte, was das Stammpublikum selbst über seine Wirkungsstätte zu sagen hat, dem sei das Buch "Lokale Legenden. Wiener Kaffehausliteratur.", herausgegeben von Hans Veigl, ans Herz gelegt. Im Vorbeigehen erhält man hier einen kurzweiligen Einblick in das Schaffen von Schriftstellern, die zu den begabtesten und einflussreichsten Habsburgs und Österreichs zu zählen sind. Mein persönlicher Favorit ist "Der Biberpelz" von Karl Kraus, in dem der Autor den Diebstahl seines titelgebenden Pelzes und die damit einhergehende zeitweise Berühmtheit satirisch verarbeitet.
Besonders hilfreich für meine Recherche war "Ins Kaffeehaus! Geschichte einer Wiener Institution." von Gerhard H. Oberzill. Das Buch ist mit viel Liebe fürs Sujet geschrieben. Es versammelt neben oft kuriosen Details und Anekdoten viele Originaltexte aus allen Epochen der Wiener Cafés.
Mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Kaffeehäuser im Allgemeinen, von den Anfängen im Orient bis zur Gegenwart, beschäftigt sich das Werk "Kaffee und Kaffeehaus: Eine Geschichte des Kaffees" von Ulla Heise.
Alle drei Bücher sind schon vor längerem erschienen, aber gebraucht online leicht zu beziehen.