Vom Hochland in die Bronx
Kaffeehaus Hagen, Christophstrasse 13, Heilbronn
Frisch aufgebrühte "Fazenda Lagoa"-Röstung
Hässliche Ente ?!
Heilbronn wird gern geschmäht. Die Industriehochburg am Neckar teilt sich einer unlängst durchgeführten Umfrage zufolge mit Duisburg und Halle an der Saale den zweifelhaften Ruhm, als häßlichste Stadt Deutschlands zu gelten. Der Grund hierfür ist leicht gefunden: der Bauboom nach dem 2. Weltkrieg setzte in der zerstörten Altstadt auf Pragmatismus. Kurzzeitige Moden galten oft mehr als dauerhafte Ästhetik. Die häufig recht trostlose Nachkriegsarchitektur prägt bis heute das Stadtbild. Auch wenn die Innenstadt nach der Sanierung im letzten Jahrzehnt durchaus ansehnlicher wurde. Und sich in nächster Zeit sowohl durch die Erweiterung der experimenta als auch die Neugestaltung des Neckarbogens für die Buga 2019 noch Manches ändern wird.
Hawaii wird aufpoliert
Einige einzigartige Juwele hat Heilbronn aber zu bieten. Eines davon ist sicher das Kaffeehaus Hagen. Auch wenn meine Besuche in der Heimat es nicht oft zulassen: ich bin doch jedes Mal sehr erfreut, hier verweilen zu dürfen.
Die Kaffeerösterei Willy Hagen hat einige wechselhafte Jahrzehnte hinter sich. Schon im Jahr 1934 wurde sie vom Firmenpatriarchen gegründet. Zu Beginn war das Unternehmen noch in der Frankfurter Straße zu Hause. Im Lauf der Zeit tauschte der Betrieb ein halbes Dutzend Mal seinen Standort. Bis er 1994 in der ehemaligen Schuhmaschinenfabrik Maier-Reinhardt in der Christofstraße seine heutige Heimat fand.
Charmanter Chic der Hochindustrialisierung
Der lange verwahrloste Backsteinbau liegt im Quartier "Hawaii". Das Viertel war auf Grund seiner heruntergekommenen Bausubstanz, seines hohen Arbeitslosenanteils und seiner Drogenszene noch bis in die 90er Jahre als Heilbronner Bronx verrufen. Hanspeter Hagen, der Sohn des mittlerweile verstorbenen Firmengründers, erkannte aber, welches Potential in dem 1909 errichteten Gemäuer schlummerte. Heute versprüht das in Stand gesetzte Fabrikgebäude wieder den Chic der Hochindustrialisierung. Und hat so in nicht unbeträchtlichem Maße zu einer kleinen Zeitenwende im Viertel beigetragen.
Zeitloses Ambiente in Schwarz-Weiß
Betritt man den Bau, durchquert man das Ladenlokal und nimmt die Treppe in den ersten Stock, so findet man sich im Café-Restaurant wieder. Der Raum ist erfüllt von geschäftigem Tellerklirren. Über holprige Dielen, unter deren abgetretenem Lack die Maserung des Holzes hervortritt, erreicht man einen freien Platz. Auf dem schwarzen Tisch, mit weißem Tuch gedeckt, wartet die Speise- und Getränkekarte. Sie offeriert eine konzentrierte Auswahl aus den Espressi, Einzelsorten und Mischungen der Hausröstungen.
Schlicht und elegant: schwarz und weiß geht immer.
Beim Warten schweift der Blick über die Wände. Sie sind üppig mit gerahmten Fotos und Bildern behangen. Fast alle in schwarzweiß, auf einem davon rührt Audrey Hepburn versonnen in einer Kaffetasse. Am anderen Ende des Raumes scheint die Sonne durch die Fenster. Vom getrockneten Regen sind sie angelaufen.
Genuss bis zum Nervenflattern
Auf dem Tisch landet schließlich eine kleines Blechtablett. Darauf scharen sich eine dickwandige Tasse mit Unterteller und ein silbernes Kännchen um eine chromglänzende Pressstempelkanne. Sie ist gefüllt mit dampfendem Fazenda Lagoa: eine Röstung von Bohnen aus dem brasilianischen Hinterland, aus dem Bundesstaat Minas Gerais. Auf einer Höhe von mehr als 1000 Metern über dem Meeresspiegel reift der Arabica heran, der für die Röstung verwendet wird. Wegen seines niedrigen Säuregehalts soll er besonders bekömmlich sein. Und tatsächlich schmeckt er rund und mild und dennoch würzig. Er lässt sich vorzüglich pur genießen, auch ohne die Sahne im Kännchen.
Am Gaumen betört Säure und Bitterkeit
Nach zwei vollen Tassen ist die Kanne dann allerdings leer. Die Neugierde verleitet mich trotz einer sich bereits heranschleichenden inneren Unruhe dazu, Körper und Geist noch weiter mit Koffein zu schwängern. Die herzliche Bedienung legt mir den Espresso Cinque Belle nahe. Er vereint eine Mischung aus fünf Arabica aus Mittelamerika, Südamerika und Asien. Wie von der Karte angekündigt besitzt er eine ausgesprochen dichte Crema. Von ihr verbleiben Schluck für Schluck dicke Ringe am Tassenrand. Am Gaumen betört die überaus ausgewogene Säure und Bitterkeit. Auch für einen langjährigen Espressoliebhaber eine außergewöhnliche Wohltat.
Aprikosen-Schmandkuchen im vorfrühlingshaften Sonnenlicht
Der dazu angereichte Aprikosen-Schmandkuchen ist cremig, schmack- und habhaft. Er überlässt den hervorragenden Kaffeespezialitäten aber gerne die Hauptrolle.
Leeren und Forschen
Wer über den reinen Genuss hinaus tiefer in die Welt des Kaffees, seines Anbaus, seines Handels und seiner Röstung einsteigen möchte, dem bietet das Kaffeehaus mehrere, aufeinander aufbauende Abendseminare an. Hier können das Kaffelager und die Rösterei besichtigt, die verschiedenen Röstungen verköstigt und die eigene Fachkunde in prestigeträchtiger Weise ausgebaut werden. Für mich ein durchaus erstrebenswert erscheinendes Unterfangen!
Vorheriger Post: Die Gräfin mags spartanisch