Königlich berauscht in Xochimilco
Pulqueria Nomas No Llores, Callejon Galeana 41, Santa María Tepepan, Ciudad de México
Schattige Zuflucht am heißen Nachmittag: das "Nomas no llores"
Königlicher Genuss...
Für viele Mexikaner ist der Pulque, noch vor dem Mezcal und Tequila, das eigentliche Nationalgetränk Mexikos. Um seine Herkunft ranken sich zahllose Legenden. Die wohl schönste lautet so: In einer längst vergangenen Zeit, als die Tiere über die Erde herrschten, durchstreifte König Opossum seine Ländereien, vom Durst geplagt. Er stieß auf eine prächtige Agave, in voller Reife. Kurzentschlossen grub er seine spitzen Krallen tief ins Herz der Pflanze. Süßer Nektar trat hervor, den er gierig trank. Kaum hatte er seinen Durst gestillt, wurde ihm jedoch schummerig zumute: der Saft hatte im Inneren der reifen Pflanze bereits zu gären begonnen. Und der König hatte sich ungewollt einen handfesten Rausch angetrunken. Den er, nach anfänglicher Verwirrung, ausgiebig genoss.
Bald schon lernten die Tiere im ganzen Reich, den Saft der Agave zum Pulque zu vergären. Um dies zu feiern, wanderte der König von Taverne zu Taverne und gab sich einem Trinkgelage nach dem Anderen hin. Seine Spuren, die er, torkelnd und schlingernd, hinterließ, füllten sich mit Wasser. So entstanden die gewundenen Flussläufe Mexikos.
...oder schäbiges Gesöff?
Wir sind – noch - klar und nüchtern, als wir an einem sonnigen Nachmittag im Süden von Mexiko-Stadt eine Pulquerià ansteuern. Hier, im Bezirk Xochimilco, findet sich noch ein gutes Dutzend dieser einfachen Bars, die sich einzig und allein dem Ausschank des Pulque verschrieben haben. Durch eine schmucklose Seitenstraße gelangen wir zum „Nomas No Llores“, zum „Du weinst schon nicht mehr so sehr“. Poetische Namen waren schon immer ein Erkennungsmerkmal der Pulquerias. Wir drücken die Saloontüren zur Seite und treten ins kühle Halbdunkel.
Frische Blumen für die Jungfrau von Guadalupe, die auch übers Wohl der Pulquetrinker wacht
Früher, noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fanden sich in der mexikanischen Hauptstadt an jeder zweiten Straßenecke Etablissements, die den vergorenen Agavensaft feilboten. Dann zogen Bierbrauer, eingewandert aus Europa, eine Schmähkampagne gegen den Pulque auf, dessen Konsum in Mexiko bis ins 2. Jahrhundert nach Christus zurückdatiert wird.
Für Tagelöhner und Taugenichtse
Den Bierbrauern zufolge würden die Pulquebauern Fäkalien in den Nektar der Agave gegeben, um die Gärung zu beschleunigen. Überhaupt sei der fermentierte Agavensaft ein unhygienisches, rückständiges Getränk, allenfalls gut für Tagelöhner und Taugenichtse, nicht aber für die stolzen Bürger einer fortschrittlichen Nation. Auch wenn die Urheber jeglichen Beweis für ihre Behauptungen schuldig blieben – die Schmähungen verfingen. Heute hat das Bier den Pulque fast vollständig vom mexikanischen Markt verdrängt. Es sind vor allem die Bauern im ländlichen Mexiko, die das Überleben der Pulquerias sichern. Und, seit ein paar Jahren, auch hippe Städter, die die überbliebenen Bars in den Metropolen wegen Ihres nostalgischen Flairs schätzen.
Frisch oder gar nicht!
Im „Nomas No Llores“ haben sich einige Jugendliche und ein paar Stammgäste älteren Jahrgangs eingefunden. Die Stimmung ist, für 14 Uhr am Nachmittag, ziemlich ausgelassen. Die digitale Jukebox dröhnt laut, die Gespräche sind noch lauter. Träge drehen sich mehrere Ventilatoren, die in die Außenwände eingelassen sind. Durch die Glasquader neben dem Eingang dringt Tageslicht. Jésus, der schnauzbärtige Wirt, rührt mit einem armlangen Holzlöffel in einem der Blechtöpfe, die vor ihm auf der Theke aufgereiht sind.
Milchig-trübe schwappt darin der Pulque. Über seinen Geschmack lässt sich ausgiebig streiten: manche bezeichnen ihn als fruchtig-säuerlich oder buttermilch-artig, andere schmecken Hefearomen heraus. Seine Konsistenz wird gern auch einmal mit Speichel verglichen; oder, zu fortgeschrittener Stunde und in liederlicher Runde, auch mit anderen Körperflüssigkeiten.
Außerhalb von Mexiko praktisch nicht erhältlich
Bis zu 8 Volumenprozent kann der Alkoholgehalt erreichen, bevor der Pulque kippt und sauer wird. Und das passiert schnell: nach der Ernte des Agavensafts und einem Reifeprozess von 7 bis 14 Tagen ist der Pulque nur innerhalb weniger Tage genießbar, bevor er aufgrund der fortschreitenden Gärung verdirbt. Der Hauptgrund, warum das Getränk außerhalb von Mexiko praktisch nicht erhältlich ist. Zwar hat die Industrie mittlerweile einen Weg gefunden, den Pulque durch Pasteurisierung haltbar zu machen. Das in Dosen abgefüllte Ergebnis hat aber, so die einhellige Meinung, mit dem frischen Gebräu geschmacklich kaum mehr etwas gemein.
Saftige Kombis
Jésus, Wirt des "Nomas No Llores", bei der Arbeit (l.); zum Pulque wird gern auch geraucht (r.)
Neben dem Pulque in purer Form haben die Pulquerias auch immer mehrere Curados im Angebot. Das sind Mischungen mit Obst- und Gemüsesäften der Saison. Besonders schmackhaft soll die Kombination mit Sellerie sein; Jésus jedenfalls, der Wirt des „Nomas no Llores“, hat heute die Curados Jitomate (Tomate), Guayaba (Guave) und Avena (Hafer!) auf der Karte. Wir ordern von jeder der drei Varianten eine Maß.
Angebote des Tages: Curados der Saison im "No Mas No Llores"
Jésus rührt noch einmal in den Töpfen vor ihm. Dann greift er sich einen Blechbecher und lässt ihn in den Topf mit dem Tomatencurado gleiten. Die aufgenommene Flüssigkeit schenkt er vom Blechbecher in einen Glaskrug, von dort aus zurück in den Becher und wieder zurück in den Krug. So wandert der Pulque einige Male, in geübten, fließenden Bewegungen, hin und her, bis der Wirt, schließlich zufrieden, den gefüllten Krug vor uns auf die Theke stellt - um die zweite und dritte Bestellung in Angriff zu nehmen.
Bloody Mary a la Azteca
Der Curado mit Hafer ist kräftig gelb und schmeckt erstaunlich fruchtig, sommerlich und tatsächlich ein wenig nach Hefe. Wie ein entfernter Verwandter des Weizenbiers, nur deutlich nahrhafter. Jésus hat das Ganze mit etwas gemahlenem Zimt verfeinert. Passt! Der rosa Curado mit Guave, so appetitlich er auch ausschaut, ist einfach nur pappsüß und findet bei keinem von uns Dreien Anklang. Mein Favorit ist der Curado Jitomate: vollreife Tomate, fruchtig und würzig, mit Chili geschärft. Bloody Mary a la azteca. Die Salzkristalle um den Glasrand runden das Ganze ab.
Curados Avena (Hafer), Guayabe (Guave) und Jitomate (Tomate)
...und gesund!
Nachdem wir unsere Krüge geleert haben, sind wir nicht nur leicht angedüdelt, sondern auch – satt?! Tatsächlich strotzt der Pulque nicht nur vor Vitaminen, Eisen und Phosphor, sondern bringt auch einige Kohlenhydrate und Aminosäuren auf die Waage. Die Säfte in den Curados tun ihr Übriges. Unser Durst und Hunger sind jedenfalls erst einmal gestillt.
Nach einem sekundenkurzen Stromausfall ist die Jukebox mittlerweile verstummt. Dem Geräuschpegel tut das keinen Abbruch. Nachdem ich, auf Wunsch eines Gastes, an der Theke die deutsche Nationalhymne zum Besten gebe, verlassen wir beschwingt, aber noch einigermaßen sicheren Schrittes, die Taverne. Draußen umfängt uns der heiße Nachmittag.
Ein paar Fragen an... Jésus
Hallo Jésus! Zuerst einmal: wie alt bist Du?
66 Jahre.
Was machst Du?
Ich bin der Wirt des "Nomas No Llores".
Wie lange gibt es das Lokal schon?
Seit 53 Jahren.
Welchen Curado trinkst Du selbst am Liebsten?
Avena (Hafer), der ist besonders schmackhaft!
Und was isst du am Liebsten?
Alle Arten von Meeresfrüchten.
Wo in Mexiko gibt es das beste Essen?
In Veracruz (Bundesstaat am Golf von Mexiko), wegen der frischen Meeresfrüchte!
Was machst Du in Deiner Freizeit?
Freizeit? Habe ich nicht. Ich bin immer hier!
Auf was bist Du besonders stolz?
Auf mein Lokal, die vielen Stammkunden und den Spaß, den ich bei der Arbeit habe.
Alles klar, vielen Dank!